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Ältestes bisher bekanntes schriftliches Zeugnis institutioneller Gewalt

Johann Geiler von Kaysersberg

In der Predigt des Kanzelredners Johann Geiler von Kaysersberg (1445-1510) zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Strassburger Münster gehalten, bezieht sich der Theologe auf die Aschenputtellegende, welche in der Historia Lausiaca des Bischofs Palladius von Helenopolis um die Zeit 400 nach Christus bezeugt ist.

Also hör ein exempel von einem eschengrüdel. Cirillus der schreibt (ist ein gesel gewesen Johannis Chrisostomi) wy in der wüste sei gewesen ein closter, da waren vierhundert iunckfrawen in, gar geistliche kind, under dene was eine die nam sich an sie wer nit witzig, und wer besessen, un gab sich selber in die kuchin, und het hudlen und lumpen umb den kopff gebunden, un gieng als ein nerrin. Die andern iunckfrawen trugen ire schwartzen keppelin uff, dise was ein eschengrüdel, macht das feuer, wusch unnd feget, und trug holtz, unnd sass nymmer zutisch, unnd ass nüt, dann was sie von den hefen herab scharret und cratzet, und dienet inen alletsamen. – Gott und der Herr wollt zeugen wie lieb im der eschengrüdel was, unnd schicket einen engel zu einem altuatter, der hiess N. Der sprach zu ym, du wenest du seiest gar volkommen unnd Gott dem herren gar angenehm, du solt wissen das du noch nit gleich bist einer tochter, die ist in der kuchin und ist ein eschengrüdel in dem closter, also gang hin und such sie wann sie ist ein grosser fründ gottes. der altuatter macht sich uff und kam an das closter, unnd begert das man in hinyn liess. Die iunckfrawen waren fro, das er begert zu in hinyn zugon, wan es was ein alte person und berümpt von seiner heiligkeit. Da er hinyn kam, da begert er das man ym die frawen alle zeugen wolt. Sie kame alle zusamen, ussgenumen der eschengrüdel. Da sprach der altuatter die frauwen seind noch nicht alle beieinander, wann er sahe die zeichen noch nicht, die ym Gott der herr durch einen engel gegeben hett. Sie sprachen, heiliger vatter, die frauwen seind alle hie,ussgenummen eine in der kuchin, die ist nicht wol bei ir selber ein nerrin. Wenn einer yetz will recht thun, so spricht man er sei nicht witzig. Er sprach bringen sie myr her, da man sie für in bracht mit dem verbundnen kopff etc. Da sahe er er die zeichen die ihm der engel geben het unnd fiel für sie uff den boden, und bate sie das sie im den segen geb. Da fiel sie für in nider und sprach ( Benedic domine) Herr, du solt mich gesegnen. Also fing der altuatter an unnd sagt den frauwen allen wer sie wer, unnd wie der engel Gottes in dar gesandt hett etc. Da erkanten sie sich gegen ir, die ein hett sie dick mit wasser begossen, die ander sagt sie hett sie geschlagen, die dritt hett ir dick senff in die nassen geschütt. Und also was ein semlich schuld sprechen da, und thet man ir so vil eeren an, das das gut mensch ist hinweg gangen, unnd hatt das closter verlassen, und spricht die history, das niemant hat mögen erfaren, wa sie hin kümen sei, das ist uns gezeugt worden in de hütigen Evangelio, da der Herr sprach: Wer sich nidert, der würt erhöcht, das hat dieser eschengrüdel gethan, damit ein end.

Zur Person Johann Geiler von Kaysersberg:
Johann Geiler gilt als der bedeutendste deutsche Prediger des ausgehenden Mittelalters. Er wurde am 16. März 1445 in Schaffhausen als Sohn des Notariatsgehilfen Hans Geiler geboren, welcher ein Jahr später das Amt des Stadtschreibers von Ammerschwihr, Elsass, wahrnahm. Weil der Vaters bereits 1449 starb, wuchs Geiler bei seinem Grossvater in Kaysersberg im Elsass auf. Er studierte von 1460 bis 1469 an der Universität in Freiburg im Breisgau und bekam den Magister Artium. 1470 erhielt er die Priesterweihe. Von 1471 bis 1475 studierte er Theologie an der Universität Basel. 1476 wurde er Professor für Theologie an der Universität Freiburg im Breisgau und im gleichen Jahr Rektor dieser Universität. 1477 gab er die Universitätslaufbahn auf. Mehrere Bistümer bemühten sich, den hochqualifizierten Redner für sich zu gewinnen. Nach einer kurzen Tätigkeit als Domprediger in Würzburg war er von 1478 bis zu seinem Lebensende 1510 als Prediger in Strassburg tätig, ab 1486 am Strassburger Münster).

Geiler übte in seinen derben und humorvollen Predigten scharfe Kritik am Zustand der Kirche und der Verweltlichung des Klerus und forderte Reformen. Er entwarf seine Predigten lateinisch und hielt sie dann grossenteils in deutscher Sprache frei. Geilers umfangreiches Werk, das Papst Paul IV. 1559 auf den Index der verbotenen Bücher setzen liess, beruht zu grossen Teilen auf Mitschriften von Hörern, lat. Aufzeichnungen und nachgelassenen Materialien. In kirchenpolitischer Hinsicht gilt Geiler nicht als Vorläufer der Reformation, sondern als Vertreter der religiösen Erneuerungsbewegung des 15. Jahrhunderts. In seiner kritischen Haltung und dem Kampf für eine bessere Welt gibt es Parallelen zu dem 300 Jahre späteren Wirken Gotthelfs.

Zusammenstellung: Walter Zwahlen

  Historia Lausiaca - Geschichten aus dem frühen Mönchtum von Palladius von Helenopolis (Autor), Adelheid Hübner (Bearbeitung), Herder Verlag (Erscheint im Oktober 2016)
Vorrede zur Historia Lausiaca in der 992 geschriebenen Handschrift Venedig, Biblioteca Marciana. Wüstenmutter
Wüstenmütter waren als Eremitinnen lebende weise Frauen des frühen Christentums.