Zeitzeugen

 
Theresia Rohr-Steinmann

Ich bin 1946 im Luzernischen als Zweitjüngste meiner Familie geboren. Als ich zwei Jahre alt war, starb meine Mutter im Kindbett zusammen mit ihrem achten Kind. So begann für uns Geschwister die Zeit des Leidens, die uns alle fürs Leben prägte. Von uns sechs damals noch lebenden Kindern wurden die beiden ältesten bereits zu jenem Zeitpunkt bei Bauern im Luzernischen verdingt. Vier Jahre danach wurden auch wir vier jüngeren zu Luzerner Bauern und Handwerkern verdingt. Drei Jahre später kamen mein älterer Bruder, meine jüngere Schwester und ich zusammen ins Kinderheim Mariazell in Sursee (LU). Nach weiteren zwei Jahren wurde ich schulbedingt erneut zu einer Kleinbauernfamilie in Wauwil (LU) fremdplatziert. Viel Scham, Schmerz, Trauer, Wut, Ohnmacht und Verzweiflung begleitete uns von früh an durch unser Leben.

Unser tief erfahrenes Leid gründet in der Entbehrung eines „Zuhause“ mit Nestwärme und Liebe von Mutter und Vater. Das Auseinanderreissen von uns Geschwistern bei unseren Fremdplatzierungen führte zum Kontaktverlust, Entwurzelung und als Folge zur Entfremdung. Wir alle litten sehr unter Einsamkeit und Verlassenheit. Unser Dasein als Verdingkind, Pflegekind, Heimkind erfüllte uns mit grosser Scham über das schlimme Los und den Verlust unserer Herkunftsfamilie. Nirgends wo wir waren – bei den Bauern, bei den Pflegefamilien oder im Heim – liess uns das strenge Regime Raum für ein frohes Kindsein und für Selbstentfaltung. Zwänge und Anpassung dominierten unser Leben. Wir mussten und wollten „Rechte“ sein. Dieses verzweifelte Streben stand dem tiefen Empfinden gegenüber, wenig wert zu sein. Selbstaufgabe und Selbstaufopferung waren die Folge.

Durch die frühe Trennung ging unter uns Geschwistern rasch jeglicher Kontakt verloren. So habe ich meine älteste Schwester erst 35 Jahre nach unserer Fremdplatzierung wiedergesehen. Von meiner zweitältesten Schwester musste ich nach der erfahrenen Trennung bereits im Alter von 16, bei schwierigsten Umständen, am Totenbett Abschied nehmen; sie kam mit ihrem Los nicht mehr zurecht und wählte mit 20 Jahren den Freitod. Bei diesem traurigen Anlass sah ich dann erstmals meinen ältesten Bruder wieder. Mit den beiden anderen Geschwistern, meinem älteren Bruder und meiner jüngeren Schwester, hatte ich zwar einige Jahre im gleichen Heim verbracht, der Kontakt war und blieb aber lose, eine geschwisterliche Nähe war durch die alters- und geschlechtsbedingte Trennung der Kinder im Kinderheim Mariazell nicht möglich. Danach - während den ersten 25 bis 30 Jahren meines Erwachsenenlebens - begegneten wir Geschwister uns nur sehr selten. Wir gingen unsere eigenen Wege und wollten mit der gemeinsamen Vergangenheit lieber nichts mehr zu tun haben. Es gab zu viel Schmerz und Wut über Ereignisse, Handlungen und der nicht einklagbaren Schuld von vielen beteiligten Tätern. Zwischen uns Geschwistern stand zu viel Nichtaussprechbares und somit auch Unausgesprochenes. So verdrängten wir lieber und hielten Distanz. Wir standen in unserem Leid nicht zusammen.

Trotzdem meisterte meine älteste Schwester ihr Leben gut. Wie zuvor bereits erwähnt, verzweifelte meine zweitälteste Schwester an ihrem Los und sah im Freitod die einzige Lösung. Der jüngere Bruder lebte über Jahre intensiv und oft überbordend, bis ihn vor bald 30 Jahren seine schwere Kindheit einholte. Er sah im Hier keinen Sinn mehr, verzweifelte und entschied sich, seiner älteren Schwester nachzufolgen. Meine jüngere Schwester ist vor bald 15 Jahren, nach einem immer wieder von Sucht und Depressionen geprägten Leben, viel zu früh an den Folgen einer unheilbaren Krankheit gestorben. Wie sehr hätte ich es ihr gegönnt, wenn sie vor ihrer Erkrankung bereit gewesen wäre, sich mit psychotherapeutischer Hilfe ihrer leidvollen Lebensgeschichte zu stellen und ihr Leben danach körperlich und psychisch erträglicher zu gestalten. Mein ältester Bruder tat sich im Leben sowohl beruflich als auch privat sehr schwer. Das in frühen Jahren erfahrene Leid stimmte ihn immer wieder melancholisch, was dazu führte, dass er seinen Beruf schon im mittleren Alter nicht mehr ausüben konnte. Es schmerzt mich sehr, dass auch er, nach einem langen, zurückgezogen und einsam verbrachten, letzten Lebensabschnitt, im Jahr 2013, freiwillig aus dem Leben schied.

Ich bin für mich und für mein jetziges Leben sehr froh, dass ich von klein auf stets eine grosse Kämpferin gewesen bin. Die Wut über das Familienschicksal und das daraus resultierende Verdingtwerden haben mich nie zur Ruhe kommen lassen. So habe ich mich immer wieder gegen amtliche Willkür und erfahrenes Unrecht gewehrt und bin - je länger desto mehr - in meinem Leben erfolgreich für mich mit meinen Interessen, Bedürfnissen und Rechten eingestanden. Sehr dankbar bin ich, dass ich auf diesem langen Weg, in den Stunden des Erinnerns des erfahrenen Leids, von meiner Familie – meinem heutigen Mann, meinen nun längst erwachsenen beiden Kindern und in den letzten Jahren auch meiner Nichte – und meinem Freundeskreis stets mitgetragen worden bin. Und ich bin sehr froh, dass ich dank professioneller Hilfe in jahrelangen Therapien meine Kindheitsgeschichte aufarbeiten und mit meiner Vergangenheit Frieden schliessen konnte. Ich bin glücklich, dass ich gelernt habe, über das erfahrene Leid zu sprechen und meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. So fühle ich mich heute frei und eigenbestimmt. Ich werde mich jedoch mit all meiner Kraft weiter dafür einsetzen, dass jeder Mensch das Recht hat, gerecht behandelt zu werden. Es ist mir ein grosses Anliegen, dass die von Unrecht betroffenen Menschen, die ohne eigenes Verschulden viel Leid erfahren, gesellschaftlich gehört werden und das Unrecht anerkannt wird.

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Foto:
KEYSTONE/Peter Klaunzer